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Die Karwoche

„Oh du mein Volk, was tat ich dir,
womit betrübte ich dich, antworte mir.“
aus der Karfreitag Liturgie


Jeder in der Stadt kannte ihn: Lang, schlank, mit langem grauen Haar und Bart,
war er einfach nicht zu übersehen – wie die Kirche; oder besser – wie das Kaufhaus,
wohin sie Tag für Tag pilgerte: Alle Wege führen nach ... „Karstadt“. Man kann es weder
verfehlen, noch ihm ausweichen. Er wusste Bescheid. Er war immer auf der Lauer.
Egal welchen Weg sie zur Stadtmitte wählte, tauchte er plötzlich aus dem Nichts auf
und stand vor ihr – mit einem hellgrauen Fangblick und einem Lächeln, das etwas
Vertrautes, auf gar keinen Fall Unterwürfiges, hatte. Er wartete auch nicht – artig, wie es
sich für einen Bettler gehört – mit einer Sammeldose, bis sie über ihren Schatten sprang
und ihm ein Almosen schenkte. Nein. Er lockte ihr das Geld aus der Tasche mit einer
Selbstverständlichkeit, die umwerfend war, zumal das Kleingeld ihn nicht mehr
zufrieden stellte ... „Etwas wollte sich vergolden ...“

Für Überraschungen war er immer gut. Eines Tages thronte er auf einem
Sperrmüllsessel direkt vor der Hauptkirche. Jeder, der in die Stadt wollte, musste an ihm
vorbei. Es war ein höchst merkwürdiger Anblick – Rosenmontag war gerade nicht ...
Wie auch immer, eines hatte er auf jeden Fall begriffen: „Sein heißt wahrgenommen
werden.“ Er war präsent. Er durchbrach ständig die Öffentlichkeitsgrenze, hinter die
man ihn am liebsten verbannt hätte. In ein Obdachlosenasyl zum Beispiel. Er mied
solche Segnungen der sozialen Fürsorge wie der Teufel das Weihwasser. Dabei
wunderte sie sich immer, dass er überhaupt noch lebte: Sie sah ihn nie etwas zu sich
nehmen, außer Kaffee, Zigaretten und Medikamenten. Er war nun mal süchtig.
Ausreichend Grund, ihn unter Vormundschaft zu stellen? Es schien, als ob dieses
Trauma ihm am meisten zu schaffen machte. Vielleicht, weil er ein Dichter war –
übrigens, der einzige Dichter, den die Stadt sich je leisten konnte – und ein
einfühlsamer Beobachter: Einmal – Zeuge eines Streites – hatte er ein
Gedicht verfasst und es ihr übergeben: Es sprach von der Liebe ...
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